Ein tiefer Theater-Tauchgang am Schönborn-Gymnasium:
„Veronika beschließt zu sterben“

Verletzliche Personen
in einer vulnerablen Welt

Das Schönborn-Gymnasium Münnerstadt erlebt eine hochintensive und begeistert aufgenommene Inszenierung von Hakon Hirzenbergers „Veronika beschließt zu sterben“, dramatisiert nach dem Romanerfolg von Paulo Coelho und unter der Regie von OStR Ralf Hartmann.

Schon der Plot des Stücks ist eine wilde Fahrt: Eine junge Frau, Veronika (Mia Lou Müller), beschließt, lebensmüde, beziehungsabgestumpft und gefühlsleer wie sie ist, aus dem Leben zu scheiden. Mit einer Überdosis Tabletten. Die geplante, aus ihrer Sicht „sanfte“ Suizidmethode wählt sie aus Rücksichtnahme auf die geliebte Mutter (Gebeugt und überzeugend: Veronika Dürr). Doch der Versuch misslingt.

Veronika findet sich in einer obskuren psychiatrischen Anstalt wieder und bekommt vom ärztlichen Personal erläutert, dass sie noch fünf Tage zu leben habe, weil ihr Herz geschädigt sei. Das ist, wie sich erst als Schlusspointe erweist, eine Finte der Anstaltsleitung. Chefärztin Dr. Igor folgt der Erkenntnis, dass man das Leben am meisten schätzt, wenn es verloren zu gehen droht. Sie ordnet an, herzschwächende Medikamente zu spritzen. Ein Vabanquespiel startet. Auch Assoziationen zu Dürrenmatts Mathilde von Zahnd („Die Physiker“) und ihren Beherrschungsfuror stellen sich rasch ein. Dr. Igor will Veronika indes zu neuem Lebensmut führen, indem man sie unter ultimativen Druck setzt. Veronikas Lebensuhr tickt auf ein vermeintliches Ende hin.

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Veronika (Mia Lou Müller, 2. v. l.) wacht nach gescheitertem Suizid-Versuch in einer psychiatrischen Klinik auf. Das medizinische Personal (v. l.: Lena Wachsmann, Sarah Schlegelmilch, Alisa Fenner) hat alle Hände voll zu tun, die Patientin zu beruhigen.

Mit dieser immens kühnen narrativen Konstruktion - Coelho ist dafür berühmt und manchmal auch berüchtigt - sind drei Ebenen der Darstellung aufgespannt. Eine Wette auf die Kraft der Irritation und einer selbstreflexiven Umkehr einer suizidbereiten Person, wenn sie in Beziehung gesetzt wird mit anderen Hilfs- und Liebesbedürftigen. Zweitens: die philosophisch-soziologische Grundüberlegung: wie brüchig ist unsere Gesellschaft hinsichtlich des Lebenswillens und -drangs?

Und, auf den dritten Blick, sich verstärkend, eine Frage von Machtgebrauch und Machtmissbrauch in einem den Zuschauer manchmal schmerzenden Medizin-Betrieb. Wie kommt ein Arzt/eine Ärztin eigentlich dazu, in dieser Weise (Halb)-Gott zu spielen?

Regisseur Ralf Hartmann hat die Rolle dieser durchaus aus Menschenliebe manipulativen, manchmal auch erschöpften und somit ambivalenten Machtfigur geschickt mit einer Schülerin (Shyna Mehra) besetzt, die zurückgenommen-sensibel, quasi schein-stark spielt, leise-selbstzweifelnd, im Wunsch, „sich vom weißen Kittel“ zu befreien, manchmal sarkastisch in die Erzieherrolle gehend. In markanten kleinen Neben-Szenen, die sich auf interessante sprachliche Dubletten stützen, holt sie sich in ihrer eigenen Einsamkeit käufliche Liebe im Escort-Kontext (als Szenenpartnerin eine spielfreudige Sophia Schlegelmilch: mit Präzision und Auge für den Effekt), weil auch sie Sehnsüchte nach Nähe hat.

Starkes Pendant zur Ärztin in der düsteren Anstalt ist Mia Lou Müller alias Veronika als verlorene Seele, sie agiert in einem zerbrechlichen und paradoxerweise abweisenden Gewand. Hilfe lehnt sie zunächst eisern ab, fast zynisch-aggressiv reagiert sie auf ihre neue Umwelt in der Anstalt, will erneut mit Tabletten den zweiten Anlauf ins Dunkle. Und doch: mit Fortgang des Stückes wird die harte Schale geknackt, sie entwickelt Zuneigungen, zu Mari, der dritten Hauptfigur (bärenstark und eine Theater-Entdeckung in Artikulation,

Modulation und Distinktion: Fabienne Trautmann), dann auch zu Eduard (ungemein präzise: Mena Wüst). Zwischen Veronika und ihm entsteht eine zarte, poetische Liebesbeziehung. Dieser Eduard, ein Künstler aus reichem Hause, verspricht ihr am Ende, das Paradies zu malen. Auf ihn kann sich Veronika einlassen und einstimmen.

An dieser scheinbaren Nebenfigur wird das Produktive der Personenkonstellation des Dramas deutlich. Mena Wüst agiert als Eduard aus dem Rollstuhl heraus mit einer stupenden Präsenz. Der Körper wie gelähmt, bleibt das Gesicht doch als Landschaft des Minenspiels. Der Zuschauer wird gezwungen, hinzusehen, was darin passiert: wie dieses verkapselte Wesen auftaut, lächelt, von der Musik Veronikas am Flügel mitgenommen wird und wieder leben will. Eine ganz starke Interpretation mit feinjustierter Mimik, einem langen Monolog und zwingender Rampenpräsenz.

Auch die anderen Insassen der Anstalt, markant geschminkt und von der Bühnentechnik fein ausgeleuchtet, schlüpfen in eine jeweils passgenaue zweite Haut, spielen sich fantastisch in die Figuren, machen aus dem anvertrauten Text oft irre viel. Lina Johannes und erneut Sophia Schlegelmilch als „zwillingspaarige“ Mari und Zedka, die Veronika feengleich und doch mystisch umschwirren und umschwärmen und repetitiv sprechend umgarnen. Emilia Karch in einer beklemmend-begeisternden körpersprachlich-kauernden und atemtechnisch-filigranen Deutung eines Zwangsneurotikers mit paranoiden Anteilen, der den weiblichen Neuankömmling in der Psychiatrie als Bedrohung der Strukturen der Anstalt sieht. Da sitzt jede Körperhaltung.

Und auch Sebastian Eisenmann als Sebastian performt stark. Zunächst lange cool sucht er in einer handlungsgeladenen Szene das Duell mit Veronika und stürzt in einen Rausch aus Selbstverletzungsaktionen, inklusive viel Theaterblut. Ganz eigentümlich und reichlich genial agiert Emil Freking als Heinrich, der mit den vorgenannten Figuren eine „Bruderschaft“ in der Anstalt bildet. Ein Hauch Verschwörung und „Einer flog übers Kuckucksnest“ liegt hier in der Luft. Denn der subversiv und intellektuell anmutende Heinrich doziert hinter einer beeindruckenden Textflächenwand, schwelgt genüsslich in Bibelzitaten und rezitiert „Faust“, um sich in einen Schutzraum seiner erschütterten Existenz zu begeben. In diesen vermeintlichen Nebenrollen wächst das Ensemble endgültig über sich hinaus. In individuell ausgeloteten, vulnerablen Figuren kreist das Stück um eine verletzliche, zugleich kalte Welt, die sich in der gefährdeten Hauptfigur bündelt. Sie wirkt in der Anstalt wie ein Magnet, der alles in Drehung versetzt.

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Die selbstbewusste Mari (Fabienne Trautmann, links) schafft es, Veronikas (Mia Lou Müller) Vertrauen in der Anstalt zu gewinnen.

Hinzu treten zwingende Regieeinfälle, etwa wenn die Alptraumgedanken Veronikas von automatenhaften Umlauffiguren im Bühnenraum vollzogen und so nach außen geleitet werden. Überhaupt der Bühnenraum: er wird variabel auf eine Haupt- und zwei Nebenscherenbühnen gedrittelt, was jede Menge Dynamik durch Positionswechsel schafft.

Mit den gleichermaßen überzeugend angelegten, reflektierten wie auch vom Klinikalltag, den vielen Stillhalte-Spritzen belasteten Krankenschwestern und Pflegerinnen - Sarah Schlegelmilch und Lena Wachsmann, sowie Alisa Fenner -, und den Assistenzärzten, den bedrängend-stummen schnauzbärtigen Hannes Lange und Benjamin Barth, komplettiert sich ein Darstellerfeld, das für das nächste Schuljahr viel verspricht. Das Ober- und Mittelstufen-Theater am Schönborn-Gymnasium hat sichtbar einen Wurf gelandet und mit Grandezza aufgespielt. OStR Hartmann hat mit seiner Crew eine beeindruckende und im Gedächtnis bleibende Bühnenadaption geschaffen, in einer idealen Mischung aus Tempo und Verdichtung. Fazit: Für nur einen Auftritt viel, viel zu schade. Am Ende: frenetischer und hochverdienter Applaus einer vollbesetzten Aula.

OStD Peter Rottmann (Bilder: OStR Daniel Karch)

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